Witwenrente: Bedeutet kurze Ehedauer zwangsläufig Versorgungsehe?

STREITIG WAR HIER DIE FRAGE, OB WITWENRENTE ZU GEWÄHREN IST, WENN DIE EHE AUFGRUND BESONDERER UMSTÄNDE NUR WENIGE TAGE GEDAUERT HAT.

Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30.5.2012, Aktenzeichen S 11 R 5359/08

Streitig war hier die Frage, ob Witwenrente zu gewähren ist, wenn die Ehe aufgrund besonderer Umstände nur wenige Tage gedauert hat.

Leitsatz : „War eine frühere Eheschließung aufgrund eines jahrelangen Scheidungsverfahrens unmöglich, so ist selbst dann nicht von einer Versorgungsehe auszugehen, wenn der Versicherte bereits bei der Hochzeit tödlich erkrankt war und die Ehe demzufolge nur 19 Tage dauerte.“

 

Witwenrente: Kurze Ehedauer bedeutet nicht zwangsläufig Versorgungsehe

Hierzu heißt es wörtlich im Urteil u.a. :

(…)

„Jedoch ist gemäß § 46 Abs. 2 a SGB VI, der für alle seit dem 1. Januar 2002 geschlossenen Ehen gilt (§ 242 a Abs. 3 SGB VI), der Anspruch auf Witwenrente ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.
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Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten hat weniger als ein Jahr gedauert, nämlich vom 6. August 2007 bis zum 25. August 2007, so dass der Tatbestand des §§ 46 Abs. 2a Hs. 1 SGB VI erfüllt ist. Der Ausschluss des Anspruchs auf Witwenrente tritt jedoch dann nicht ein, wenn „besondere Umstände“ vorliegen, aufgrund derer trotz der kurzen Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.
Dies ist dann der Fall, wenn eine Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder zumindest gleichwertig sind (Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 5. Mai 2009, B 13 R 55/08 R, zitiert nach juris, Rn. 21). Die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe sind in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG, a.a.O.).
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Als besondere Umstände im Sinne des §§ 46 Abs. 2 a SGB VI sind alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls anzusehen, die auf einen von Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen; dabei kommt es auf die (ggf. voneinander abweichenden) Beweggründe beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten beispielsweise durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zu Eheschließung veranlasst hat (BSG, a.a.O., Rn. 20). Eine abschließende Typisierung oder Pauschalierung der von der Versorgungsabsicht verschiedenen besonderen Beweggründe im Rahmen des § 46 Abs. 2a SGB VI ist angesichts der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten nicht möglich. Die vom hinterbliebenen Ehegatten behaupteten inneren Umstände für die Heirat sind zudem nicht nur für sich – isoliert – zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der jeweiligen Eheschließung bestehenden äußeren Umstände in die Gesamtwürdigung, ob sie mit dem Ziel der Erlangung einer Hinterbliebenenversorgung geschlossen worden ist, mit einzubeziehen (BSG, a.a.O., Rn. 24).
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Allerdings kommt dem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung eine gewichtige Bedeutung zu. Bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten ist in der Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI (Widerlegung der Versorgungsehe) nicht erfüllt.
Dennoch ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde; allerdings müssen dann bei der abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war. Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Annahme einer Versorgungsehe bei einem Versterben des Versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden (BSG, a.a.O., Rn. 27).
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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Kammer unter Abwägung der inneren und äußeren Umstände des Einzelfalles zu dem Ergebnis gelangt, dass die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe im Sinne eines Vollbeweises widerlegt ist.
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Zwar litt der Versicherte an einer objektiv lebensbedrohlichen Erkrankung, einem Lungenkarzinom. Den späteren Eheleuten war die Diagnose seit November 2006 bekannt. In der Bevölkerung ist aber allgemein im Bewusstsein, dass bei einer Krebserkrankung, selbst einer solchen, bei der die Überlebenschancen wesentlich höher sind als bei einem Lungenkarzinom, das Risiko eines alsbaldigen Ablebens besteht. Dies muss auch der Klägerin bewusst gewesen sein, auch wenn sie angibt, sie und ihr verstorbener Ehegatte hätten daran geglaubt, dass es noch Aussichten auf Heilung gibt und dass sie nicht ahnten, dass es so schnell gehen würde. Auch wenn viele Erkrankte und ihre Angehörigen auf die Hoffnung, geheilt werden zu können, setzen, bleibt trotz der Hoffnung regelmäßig im Bewusstsein der Betreffenden, dass die Erkrankung oftmals tödlich verläuft.
Die Klägerin selbst hat angegeben, es sei damals für sie „schlimm gewesen“. Dies ist gerade deshalb so gut nachvollziehbar, weil regelmäßig das Auftreten einer Krebserkrankung die Auseinandersetzung mit einem möglichen Ableben hervorruft. Eine Erkrankung, die nicht oder selten zum Tod führt, sondern vielmehr regelmäßig gut heilbar ist, führt dagegen regelmäßig nicht dazu, dass die Situation von den Betroffenen als „schlimm“ empfunden wird. Die somit objektiv vorliegende Erkrankung ist daher, auch wenn die Klägerin und der Versicherte davon ausgingen, dass es –möglicherweise – noch Heilung gibt, zunächst ein Indiz, das für eine Versorgungsehe spricht. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil zum Zeitpunkt der Heirat der Allgemeinzustand des Versicherten wegen der Folgen der Sigmaperforation sehr schlecht war.
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Aber auch trotz des von der Kammer hier angenommenen Bewusstseins, dass der Tod in absehbarer Zeit eintreten kann, liegen gewichtige Umstände vor, die gegen eine Versorgungsehe sprechen. Die Klägerin konnte die Kammer in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass sie und der Versicherte bereits seit längerer Zeit die Absicht hatten, den Bund der Ehe zu schließen und dies letztendlich über Jahre hinweg deshalb nicht verwirklicht werden konnte, weil der Versicherte in erster Ehe noch verheiratet war und daher ein objektiv bestehendes Ehehindernis vorlag. Das Verfahren der Ehescheidung von seiner ersten Ehefrau war bereits seit dem Jahr 2001 rechtshängig; die Rechtskraft des Scheidungsurteils trat im November 2006 ein. Nach der glaubhaften Aussage der Klägerin und aufgrund der Vorlage des Schreibens des damaligen Rechtsanwaltes des Versicherten wurde dies ihnen erst im Mai 2007 bekannt gegeben, einem Zeitpunkt, als die Krebserkrankung bereits aufgetreten und der Versicherte schwer erkrankt war.
Insoweit war aufgrund des äußeren Umstandes, dass der Versicherte noch verheiratet war, die Eheschließung zu einem Zeitpunkt, als die tödliche Erkrankung noch nicht bekannt war, überhaupt nicht möglich. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass er das Scheidungsverfahren schon seit längerer Zeit anhängig war und die „späte Scheidung“ nicht auf einen mangelnden Scheidungswillen des Versicherten zurückzuführen war. Wäre ein Scheidungsverfahren nicht anhängig gemacht worden, so hätte argumentiert werden können, dass es dem Versicherten gar nicht ernst damit war, seine neue Lebensgefährtin zu heiraten. Als die beiden dann im Mai 2007 von der Rechtskraft des Scheidungsurteils erfuhren und damit für sie die Möglichkeit bestand zu heiraten, ist es aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des Versicherten auch sehr gut nachvollziehbar, dass die lange bestehenden Absichten nicht unverzüglich verwirklicht wurden, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt.
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Das objektiv bestehende Ehehindernis ist aber ein so gewichtiger Umstand, der bei einer Gesamtabwägung aller äußeren und inneren Umstände den Umstand der Kenntnis der tödlichen Erkrankung des Versicherten zurücktreten lässt. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die beiden bereits seit dem Jahr 2003 zusammengelebt, ein gegenseitiges Testament errichtet, eine Patientenverfügung aufgesetzt sowie gegenseitige Bankvollmachten eingerichtet hatten. Auch konnte die Klägerin glaubhaft darlegen, dass zu dem Zeitpunkt, als noch ein Ehehindernis bestand und die tödliche Erkrankung noch nicht bekannt war, sie bereits Erkundigungen bzgl. einer möglichen Eheschließung eingeholt haben.
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Insgesamt ergibt sich aus den genannten Umständen für die Kammer das Bild, dass mit der Eheschließung noch das vollzogen werden sollte, was die beiden schon seit langer Zeit beabsichtigt hatten und nicht die Ehe noch schnell geschlossen wurde, um eine Witwenversorgung zu begründen.“ (…)

Quelle: http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid;=JURE120011851&psml;=sammlung.psml&max;=true&bs;=10

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