Nachteilsausgleich bei außergewöhnlicher Gehbehinderung

MERKZEICHEN „AG“ SETZT NICHT ZWINGEND VORAUS, DASS BEWEGUNGSUNFÄHIGKEIT BESTEHT
1. Das gesundheitliche Merkmal außergewöhnliche Gehbehinderung („aG“) setzt nicht voraus, dass ein schwerbehinderter Mensch nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen.

2. Es reicht aus, wenn er selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kfz an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung gehen kann.

Nachteilsausgleich bei außergewöhnlicher Gehbehinderung – Das BSG Urteil

BSG, Urteil vom 10. 12. 2002 – B 9 SB 7/01 R

Hierzu heißt es wörtlich:

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Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.

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Hierzu zählen:

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Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

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Diese VV ist in der – zu Nr 11 unveränderten – Fassung vom 28. Oktober 1998 (BAnz 1998, Nr 246b) gemäß Art 84 Abs 2 Grundgesetz als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung (zuvor: der Bundesminister für Verkehr sowie für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit) neu erlassen worden (BAnz 2001, Nr 21, S 1419). Sie bleibt in ihrem Bestand mithin unberührt vom Wegfall der Ermächtigung des Bundesministeriums für Verkehr zum Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften in § 6 Abs 1 StVG idF des Gesetzes vom 11. September 2002 (BGBl I, 3574).

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Da der Kläger nicht zu einer der in der VV beispielhaft aufgeführten Gruppen von schwerbehinderten Menschen gehört, kann er nach den Kriterien dieser Norm nur dann als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden, wenn er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Für eine solche Gleichstellung hat der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung den folgenden Maßstab entwickelt: Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr 11 Abschnitt II 1 Satz 2 1. Halbsatz aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Im Einzelfall scheint es sich allerdings nur schwer entscheiden zu lassen, wann diese Forderung erfüllt ist.

Denn bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen handelt es sich in Bezug auf ihr Gehvermögen offenbar nicht um einen homogenen Personenkreis. Es erscheint sogar möglich, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein mag (sodass diese nicht einmal als erheblich beeinträchtigt in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr <Merkzeichen „G“> anzusehen wären).

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Solche Besonderheiten sind nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis richtet. Denn entweder handelt es sich bei Personen, die zwar nach der Art der Behinderung zu einer der aufgeführten Gruppen zählen, jedoch tatsächlich die Voraussetzungen des Obersatzes (Bewegung außerhalb des Kraftfahrzeuges nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung) nicht erfüllen, um Ausnahmefälle.

Dann ist ihre Einbeziehung in den Kreis der Begünstigten unter dem Gesichtspunkt der Typisierung zur Verwaltungsvereinfachung hinzunehmen. Oder es hat sich die Gehfähigkeit einer größeren Zahl von Angehörigen einer bestimmten Gruppe, also auch von typischen Vertretern derselben, – etwa durch Fortentwicklung der Orthopädietechnik – so verbessert, dass sie nach dem allgemeinen Maßstab bzw im Vergleich mit anderen genannten Personengruppen nicht als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden können. Dann ist ihre (weitere) beispielhafte Nennung in der VV zu Unrecht erfolgt.

In diesem Fall könnte die betreffende Gruppe nicht mehr im Rahmen der Gleichstellung anderer behinderter Menschen zu Vergleichszwecken herangezogen werden. Der Maßstab zur Gleichstellung nicht genannter Gehbehinderter muss sich mithin strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren. Diese Personen können sich insbesondere nicht auf die Gehfähigkeit prothetisch gut versorgter Doppelunterschenkelamputierter berufen. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung des Senats zu verstehen, dass es bei den aufgeführten Behindertengruppen grundsätzlich nicht auf die prothetische Versorgung ankommt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 und Urteil vom 27. Februar 2002 – B 9 SB 9/01 R – Juris).

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Anders als vom LSG angenommen, hat der Senat die Zugangsschwelle zu „aG“ damit nicht auf das Niveau von Querschnittsgelähmten und in der VV genannter Gliedmaßenamputierter ohne orthopädische Versorgung angehoben, die – mit den Worten des LSG – „nahezu fortbewegungsunfähig“ sind. Eine solche Forderung widerspräche sowohl der VV zur Straßenverkehrsordnung als auch dem Sinn und Zweck des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG. Beide Vorschriften richten sich an Schwerbehinderte mit „außergewöhnlicher Gehbehinderung“, fordern also nicht den vollständigen Verlust der Gehfähigkeit, sondern lassen ein – ggf erst durch orthopädische Versorgung ermöglichtes – Restgehvermögen zu. Die Gehfähigkeit muss nur so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150, S 10 in der Begründung zu § 6 StVG).

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Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Wie das LSG in der angegriffenen Entscheidung unangegriffen und damit für den Senat bindend festgestellt hat, gibt es keinen exakten Beurteilungsmaßstab, um den berechtigen Personenkreis nach dem gesteigerten Energieaufwand beim Gehen abzugrenzen. Auch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt dazu grundsätzlich nicht. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat zwar die Wegefähigkeit im Schwerbehindertenrecht (Merkzeichen „G“) und im Rentenversicherungsrecht (im Rahmen der Prüfung von Erwerbsunfähigkeit) nach einer zumutbar noch zurücklegbaren Wegstrecke von 2000 Metern in 30 Minuten bzw von 500 Metern in 7,5 Minuten bestimmt (vgl BSGE 62, 273, 277 ff = SozR 3870 § 60 Nr 2 und BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 sowie Majerski-Pahlen, MedSach 1995, 50).

Die Instanzgerichte haben im Anschluss daran versucht, mit 100 Metern zumutbarer Wegstrecke auch eine Grenze für „aG“ zu markieren (für den Ausschluss so noch Wegefähiger: LSG für das Saarland vom 6. Februar 2001 – L 5b SB 67/99 – Juris, unter Berufung auf die Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz; LSG Baden-Württemberg vom 15. März 2001 – L 11 SB 4527/00 – Juris; für Zuerkennung des Merkmals „aG“ bei so noch Wegefähigen: Thüringer LSG vom 14. März 2001 – L 5 SB 672/00 – anhaltspunkte.de; LSG Berlin vom 9. Mai 1995 – L 13 Vs 23/94 – Juris). Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen jedoch nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt.

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Der Kläger gehört danach zum berechtigten Personenkreis, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Die erste Voraussetzung erfüllt der Kläger, denn nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen vermag er sich nur mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch dann nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortzubewegen. Ob dies mit entsprechend großen körperlichen Anstrengungen verbunden ist, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen jedoch nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, zumal das LSG bei seiner Beurteilung von anderen rechtlichen Kriterien ausgegangen ist.

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Da der erkennende Senat die nach alledem noch erforderliche ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses wird davon ausgehen können, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen. Die für „aG“ geforderte große körperliche Anstrengung dürfte gegeben sein, wenn der Kläger die von ihm nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann.“

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