Merkzeichen „G“ auch bei psychischen Erkrankungen

KÖNNEN AUCH PSYCHISCHE STÖRUNGEN DAS VORLIEGEN EINER ERHEBLICHEN BEEINTRÄCHTIGUNG DER BEWEGUNGSFÄHIGKEIT IM STRASSENVERKEHR IS VON §§ 145 ABS 1, 146 ABS 1 SGB 9 (MERKZEICHEN G) BEGRÜNDEN

 

Die Vorinstanz hat diese Frage bejaht: 

„Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.03.2012 geändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 06.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2009 verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „G“ festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin drei Viertel der Kosten des Klageverfahrens sowie die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch um die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr“ (G).

Bei der am 00.00.1969 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 29. 08. 2008 den Grad der Behinderung (GdB) mit 40 fest. Nach der gutachterlichen Stellungnahme vom 22.08.2008 berücksichtigte der Beklagte ein Wirbelsäulensyndrom mit Bandscheibenschaden und Nervenwurzelreizungen (GdB 20), ein Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, Schmerzverarbeitungsstörung (GdB 30), allergische Bronchitis, allergische Diathese, mit allergischer Hauterkrankung (GdB 10) sowie Hautleiden mit Gelenkerkrankung (GdB 20).

Am 18.5.2009 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB. Der Beklagte holte Befundberichte und Arztbriefe ein, unter anderem des N-hospitals B, wo sich die Klägerin in der Zeit vom 21.10. bis 4.11.2008 in vollstationärer schmerztherapeutischer Behandlung befand. In dem Bericht vom 4.11.2008 wird der Befund einer Fibromyalgie beschrieben. Danach erfolgte in der LWL-Tagesklinik X eine weitere schmerztherapeutischer Behandlung. Der Beklagte wertete weiterhin ein für die Deutsche Rentenversicherung Westfalen (RV Westfalen) am 01.04.2009 erstelltes psychiatrisches Gutachten von Dr. G aus. Dieser hatte eine rezidivierende depressive Störung schwergradiger Ausprägung mit Somatisierung bei chronischem Schmerzsyndrom, Cervicocephalgien, Cervicobrachialgien und Lumbalgien sowie eine Psoriasisarthritis diagnostiziert. Er war im Hinblick auf die Ausprägung und Dauer der von ihm angenommenen komplexen Störung von einer wesentlichen und dauerhaften Einschränkung der Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit der Klägerin für das Erwerbsleben ausgegangen.

Mit Bescheid vom 06.07.2009 stellte der Beklagte ab 18.05.2009 einen GdB von 50 fest. Die zugrundeliegenden Beeinträchtigungen bezeichnete er wie folgt:
1. Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, Schmerzverarbeitungsstörung, rezidivierende depressive Störung (Einzel-GdB 50);
2. Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenschaden mit Nervenwurzelreizungen, Tendomyopathie (Einzel-GdB 20);
3. Hautleiden mit Gelenkerkrankung (Einzel-GdB 20);
4. allergische Bronchitis, allergische Diathese, allergische Hauterkrankung (Einzel-GdB 10).
Die Zuerkennung des Nachteilsausgleich G lehnte er ab. Den Widerspruch der Klägerin, zu deren Begründung diese sich insbesondere auf die Ausführungen von Dr. G bezog, wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 17.8.2009 zurück.

Zum weiteren Verlauf:

Die Klägerin hat am 15.9.2009 Klage beim Sozialgericht Münster (SG) erhoben, mit welcher sie einen höheren GdB als 50 sowie das Merkzeichen „G“ begehrt und zur Begründung ausgeführt hat, ihre maximale Gehstrecke betrage schmerzbedingt weniger als 500 m. Zudem seien die Beschwerden an der Wirbelsäule mit 30 zu bewerten. Es lägen mittelgradige Funktionseinschränkungen in zwei Abschnitten vor. Sie hat eine ärztliche Bescheinigung des N-hospitals B vom 23 10.2009 vorgelegt, in der unter anderem eine Psoriasis mit Gelenkbefall, die seit 2004 bekannte Fibromyalgie, sowie ein chronischer Schmerz in der Stärke 8 bis 10, der jegliche Aktivität massiv behindere, beschrieben werden. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. D, Dr. X, Dr. T, Dr. E sowie der Psychotherapeutin Dr. T1 eingeholt. Sodann hat es durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie Dr. C vom 16.2.2011 nebst ergänzender Stellungnahme vom 11.08.2011 Beweis erhoben. Nach den Feststellungen des Sachverständigen (SV) liegen bei der Klägerin eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine rezidivierende depressive Störung (mittelgradige Episode) und eine abhängige Persönlichkeitsstörung vor. Diese Beeinträchtigungen im Bereich der Psyche bewertete der SV mit einem Einzel-GdB 50. Das Wirbelsäulensyndrom und die Psoriasis vulgaris mit Psoriasisarthritis beurteilte er mit jeweils einem Einzel-GdB 20 und die allergische Bronchitis mit einem Einzel-GdB 10. Der Gesamt-GdB betrage 50. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr liege nicht vor, da der SV keine Gehstörung habe feststellen können. Soweit die Klägerin subjektiv das Gefühl habe, dass sie nur 400 Meter gehen könne, ordne sich dies unter dem Gefühl der Verschlimmerung einer allgemeinen Schmerzsymptomatik ein und entspreche nicht einer eigentlichen Gehstörung.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 05.03.2012 abgewiesen und die Entscheidung im Wesentlichen auf die Ausführungen und Ergebnisse des Gutachtens von Dr. C gestützt. Der GdB sei mit 50 zutreffend bewertet. Der Gesamtbehinderungsrad sei im Wesentlichen durch die psychische Beeinträchtigung und die Schmerzstörung geprägt. Das Wirbelsäulenleiden, die Psoriasis und das Bronchialleiden würden daneben nicht erhöhend wirken. Das Merkzeichen G sei nicht festzustellen. Die ganzkörperlichen Schmerzzustände führten nicht zu einer Gehbehinderung. Der SV habe überhaupt keine Gehstörung festgestellt.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 02.04.2012 zugestellte Urteil am gleichen Tag Berufung eingelegt. Diese hat sie in der mündlichen Verhandlung am 16.10.2013 auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G beschränkt. Sie führt zur Begründung aus, das Gutachten des SV Dr. C sei nicht überzeugend. So könne der Nachteilsausgleich G auch dann anerkannt werden, wenn zwar nicht die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung aufgeführten Voraussetzungen vorlägen, das Gehvermögen jedoch wegen funktioneller Einschränkungen, wie sie hier sowohl wirbelsäulen- als auch schmerzbedingt vorlägen, vergleichbar beeinträchtigt sei. Insoweit hat die Klägerin ausdrücklich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.04.2008, B 9/9a SB 7/06 R, in Juris, Bezug genommen.

 

Was die Klägerin beantragt

Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.03.2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.07.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2009 zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab Antragstellung festzustellen.,

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine psychische Erkrankung alleine könne eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht auslösen. Der Beklagte sieht auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Voraussetzung für den Nachteilsausgleich G als nicht gegeben an. Das Gutachten sei nicht überzeugend. So habe der SV die Gehstrecken nicht gemessen. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für physikalische und rehabilitative Medizin sowie für Neurologie und Psychotherapie Dr. T2. Der SV hat Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule mit einem GdB 20, der linken Hand mit einem GdB 10, der Psyche mit einem GdB 50, die Einschränkungen durch die allergischen Bronchitis und die allergische Diathese mit einem GdB 10 und durch den Reflux der Speiseröhre mit einem GdB von knapp 10 beurteilt und den Gesamt-GdB mit 50 für angemessen gehalten.

Er hat bezüglich des geltend gemachten Nachteils-ausgleichs G ausgeführt, dass keiner der in der Anl VersMedV genannten Regelfälle vorliege. Von der organischen Funktionalität sei die Klägerin nicht daran gehindert, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder eine Gefahr für sich oder andere ortsübliche Wegstrecken von ca 2 km Länge zu Fuß und über 30 Minuten zurückzulegen. Jedoch bestehe bei ihr eine Schmerzproblematik durch das Fibromyalgie-Syndrom, auch als somatoforme Störung, zT mit hypochondrischen Symptomen bei depressiven Episoden.

Die Klägerin sei überzeugt von ihren Einschränkungen und auf die körperlichen Einschränkungen fixiert, wobei die Schmerzwahrnehmung durch psychogene Prozesse deutlich verstärkt werde. Phasenweise würde sie ihre Schmerzen auch seitens der Wirbelsäule und Beine so intensiv erleben, dass sie glaubhaft nicht eine entsprechende Wegstrecke zurücklegen könne. Es gebe durchaus Phasen, in denen längere Wegstrecken möglich seien. Allenfalls könne die Klägerin 1 km im dreißig Minuten zurücklegen. Die Dauerleistungsfähigkeit mit der Vorgabe von zwei km in 30 Minuten sei zu keiner Zeit ohne erhebliche, nicht zumutbare Schmerzen zu bewältigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe:

Die nur noch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G gerichtete Berufung ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind insoweit rechtswidrig, als hiermit die Feststellung des Nachteilsausgleichs G abgelehnt wird. Bei der Klägerin besteht ab Antragstellung am 18.05.2009 eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr – Nachteilsausgleich G – als Voraussetzung für eine unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung dieses Nachteilsausgleichs sind die §§ 145, 146 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX). Nach § 145 Abs. 1 S 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die hierfür zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen – § 69 Abs 1 und Abs 4 SGB IX -. Nach § 146 Abs 1 S 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Inwieweit der behinderte Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, beurteilt der Senat nach den sich in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Beurteilungskriterien unter Berücksichtigung der bis 31.12.2008 als antizipierte Sachverständigengutachten wirkenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2008 (AHP, Teil B Abs 30) bzw der sie ab 01.01.2009 ablösenden, nach Maßgabe der nach § 69 Abs 1 S 5 SGB IX iVm § 30 Abs 1, Abs 16 (bis zum 30.06.2011 § 30 Abs 17) des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und hier deren Anlage zu § 2 (Anl VersMedV) Teil D Merkzeichen 1.

Soweit Teil D Merkzeichen Anl VersMedV nunmehr ausdrücklich die maßgeblichen Beurteilungskriterien enthält, wird deren Wirksamkeit allerdings verschiedentlich in Frage gestellt (vgl. LSG Baden Württemberg, zuletzt Urteil vom 21.02.2013, L 6 SB 5788/11 mwN in Juris, Rn 22; Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm4). Die gesetzliche Ermächtigung für den Erlass der VersMedV in § 30 Abs 16 BVG beziehe sich auf die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen iS des § 30 Abs 1 BVG. Sie enthalte indes keine gesetzliche Ermächtigung, Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen nach § 69 Abs 4 SGB IX festzulegen. Dem ist allerdings entgegen zu halten, dass gemäß § 69 Abs 4 SGB XI die erforderlichen Feststellung bezüglich der Nachteilsausgleiche ausdrücklich nach § 69 Abs 1 SGB IX zu treffen sind und sich die gesetzliche Ermächtigung nach § 30 Abs 16 BVG über § 69 Abs 1 S 5, Abs 4 SGB IX auch auf die Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen erstreckt. Ob die VersMedV hinsichtlich der Nachteilsausgleiche auf einer ausreichenden Ermächtigungsrundlage beruht, kann dahingestellt bleiben. Im Ergebnis hat die Frage der Wirksamkeit der VersMedV keine Auswirkungen auf die maßgeblichen Bewertungsgrundlagen, denn die Anl VersMedV entspricht in Teil D Merkzeichen 1 von redaktionellen Anpassungen abgesehen den früheren AHP Teil B Nr 30.

 

Die maßgeblichen Bewertungskriterien

Zu den maßgeblichen Bewertungskriterien hat das BSG zuletzt in der Entscheidung vom 24.04.2008, B 9/9a SB 7/06 R in Juris Rn 12. klargestellt: „Das Gesetz fordert in §§ 145 Abs 1 S 1, 146 Abs 1 S 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die AHP beschreiben dazu in Nr. 30 Abs 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können.

Die AHP geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen.“

Teil B Nr 30 AHP und die sie ablösende Teil D Merkzeichen 1 Anl VersMedV nennen Regelfälle, in denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind. Sie bestimmen damit zugleich den Maßstab, nach dem im Einzelfall zu beurteilen ist, ob dort nicht genannte Behinderungen die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigen.

 

Die gesundheitlichen Vorraussetzungen für den Nachteilsausgleich

Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G erfüllt die Klägerin. Sie kann die Wegstrecke, die im Ortsverkehr üblicherweise 2 km beträgt (BSG, Urteil vom 24.04.2008, B 9/9a SB 7/06 R in Juris Rn 13 mwN, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.09.2012, L 13 SB 106/11 in Juris, Rn 18 mwN, sowie seit AHP 1996 Teil B Nr 30 Abs 2 , Teil D Nr 1b Anl VersMedV), nicht mehr in einer zumutbaren Zeit von etwa einer halben Stunde zurücklegen. Davon ist der Senat nach den Feststellungen des SV Dr. T2 überzeugt. Der SV hat neben den Beschwerden an der Lendenwirbelsäule den Befund einer Fibromyalgie, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit wiederholt mittelgradigen depressiven Episoden, gemischt mit Angst und Panik und zT hypochondrischen Störungen erhoben. Er hat eine Einschränkung der Dauergehfähigkeit aufgrund der Schmerzen, aber auch eine deutlich fixierte Überzeugung, längere Wegstrecken nicht mehr bewältigen zu können, beschrieben. Die Schmerzwahrnehmung werde durch die psychogenen Prozesse deutlich verstärkt.

Der Senat hält die Schlussfolgerung des SV, dass bei der Klägerin eine Dauerleistungsfähigkeit von 2 km unter der Vorgabe von 30 Minuten zu keiner Zeit mehr zu bewältigen sei, für nachvollziehbar. Der SV Dr. T2 konnte den Umfang der seiner Beurteilung nach noch möglichen Wegstrecke von allenfalls 1 km im Rahmen seiner Schätzungsbandbreite auch festlegen, ohne die noch mögliche Wegstrecke im Einzelnen gemessen zu haben. Es ist anerkannt, dass Gehtests zur Beurteilung des Nachteilsausgleichs G ungeeignet sind (vgl Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Kommentar, 5. Auflage Anmerkungen zu Teil D 1, Rn 4 mwN).

 

Die Schlussfolgerung

Die Schlussfolgerung des SV Dr. T2, dass die zumutbare Wegstrecke auf weit unter 2 km abgesunken ist, wird durch die Feststellungen des im Klageverfahren gehörten SV Dr. C, der keine Einschränkung der Mobilität sieht, nicht in Zweifel gezogen. Auch dieser Arzt hat bei der Klägerin eine erhebliche psychische Beeinträchtigung iS einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine abhängige Persönlichkeitsstörung festgestellt, die er unter Hervorhebung der Ganzkörperschmerzen ebenfalls mit einem Einzel-GdB von immerhin 50 bewertet und aufgrund derer die Klägerin glaube, nur 400 Meter gehen zu können. Der SV hat trotz des von ihm mit „subjektives Gefühl“ bezeichneten Gehvermögens eine Aggravation und Simulation aber nicht festgestellt. Soweit der SV meint, dies „subjektive Gefühl“ entspreche nicht einer „eigentlichen Gehstörung“, so stellt er dadurch lediglich auf das organisch bedingte Gehvermögen ab. Dass sich die, so Dr. C, „gravierende Ganzkörperschmerzsymptomatik“ final auf das Gehvermögen auswirkt, wird von ihm überhaupt nicht diskutiert. Die Feststellung des SV, die ständigen Ganzkörperschmerzen würden die Mobilität nicht beeinträchtigen, überzeugt nicht.

Diese Einschränkung des Gehvermögens beruht auch auf Behinderungen der schwerbehinderten Klägerin, nämlich der psychosomatischen Störung mit den gravierenden Ganzkörperschmerzen und dem massiven und unzumutbaren Schmerzerleben, das die Beschwerden an der Lendenwirbelsäule und die Beschwerden im Rahmen der endzündlichen rheumatischen Erkrankung bei Psoriasis Arthritis überlagert. Zu Recht weist der Beklagte darauf hin, dass die Klägerin mit diesen Behinderungen die in den Regelbeispielen aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt. Dennoch können die Einschränkungen des Gehvermögens, die weitgehend durch die psychische Erkrankung bedingt sind, bei der Beurteilung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht unberücksichtigt bleiben. Das Gehvermögen wird durch die anhaltende somatoforme Schmerzstörung in gleich hohem Maße eingeschränkt, wie in den (beispielhaft) genannten Fällen und ist auf etwa 1 km reduziert.

 

Zum weiteren Verlauf

Soweit der Beklagte unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 10.05.1994, 9 BVs 45/93(Antriebsstörungen aufgrund psychischer Leiden), des LSG Niedersachsen Bremen vom 28.09.2010, L 11 SB 77/07 (phobische Störung, mit Angstzuständen und Panikattacken) und des erkennenden Senates vom 27.08.2008, L 10 SB 112/04 (Orientierungsstörungen und Anfälle aufgrund von Medikamenteneinnahme) die Ansicht vertritt, psychische Störungen könnten allein nicht die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auslösen, kann dies nur entsprechend der abschließenden Aufzählung in § 146 Abs. 1 S 1 SGB IX Fallgestaltungen betreffen, in denen sich, anders als hier, die psychische Störung gerade nicht unmittelbar auf das Gehvermögen selbst auswirkt. Das war bei den genannten Entscheidungen nicht der Fall. So konnte die Klägerin in dem vom LSG Niedersachsen-Bremen entschiedenen Fall (aaO) auf welchen der Beklagte sich insbesondere beruft, ohne weiteres Wegstrecken von mindestens 2 km zurücklegen, was sie beispielsweise im Rahmen von Nordic-Walking an einem kleinen See, an welchem sich keine öffentlichen Straßen oder Plätze befanden, auch tat. Diese Fallgestaltung ist ebenso wenig mit der vorliegenden vergleichbar wie die Fallgestaltung in dem von dem Beklagten in Bezug genommenen Urteil des Senats vom 27.08.2008 (L 10 SB 112/04).

 

Das Ergebnis

Die dortige Klägerin litt unter Orientierungsstörungen und Anfällen aufgrund unvermeidbarer Medikamenteneinnahme, was nur dann zur Feststellung des Nachteilsausgleichs G führen könnte, wenn die Störungen und Anfälle einen vergleichbaren Umfang wie die in Teil D Nr 1 f bzw für die Zeit bis 31.12.2008 in Nr 30 Abs. 5 AHP) genannten Regelfälle (zB geistige Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB 80 oder 90 in den meisten Fällen) hätten. Es ist gerade danach zu differenzieren, ob die psychische Störung dazu führt, dass der behinderte Mensch daran gehindert ist, sich im Straßenverkehr bzw öffentlichen Raum zurechtzufinden oder wie hier – schmerzbedingt – tatsächlich in seinem Gehvermögen eingeschränkt ist.

Die Funktionseinschränkungen an der Wirbelsäule und die Psoriasis-Arthritis, die sich jeweils nicht nennenswert auf das Gehvermögen auswirken, werden durch die gravierende Schmerzsymptomatik derart verstärkt und überlagert, dass hier eine Gleichstellung mit den in den Regelbeispielen (Teil B Nr 30 AHP, Teil D, Merkzeichen, Nr. 1 Anl VersMedG) genannten Personengruppen gerechtfertigt ist. Das gravierende Ganzkörperschmerzerleben, das auch der SV Dr. C festgestellt hat, ist ohne Zweifel psychisch bedingt und nicht organisch veranlasst; es wirkt sich aber final betrachtet, also orientiert am tatsächlich bestehenden Zustand, als behinderungsbedingte Einschränkung ihres Gehvermögens unmittelbar auf die Bewegungsfähigkeit der Klägerin im Straßenverkehr aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt, dass die Klägerin die von ihr noch im Klageverfahren auch begehrte Feststellung eines höheren GdB nicht erreicht hat.

Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil er der Frage, ob auch psychische Störungen das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung begründen können, grundsätzliche Bedeutung beimisst.“

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